Sonntag, 1. Januar 2012

Gesellschaftlicher Winter?

Stellt Euch vor, Ihr schaut in Eure Geldbörse und bemerkt, dass Ihr 50 Cent verloren habt. Was folgt? Weltuntergangsstimmung? Verbaute Zukunftsperspektiven? Eine den Boden unter den Füßen wegreißende Talfahrt schnurstracks in die Armut hinein?
Oder nur ein Anflug von Ärger und dann ein leichtes Achselzucken? Vielleicht auch nichts von alledem, weil Ihr das Minus von 50 Cent in der Geldbörse gar nicht erst bemerken würdet?


„Entschuldigen Sie bitte die Störung, ich verkaufe die Motz“ – wer diesen oder einen ähnlichen Spruch nicht kennt, fährt womöglich nie mit den Öffentlichen. In Berlin ist es die Motz oder der Straßenfeger, in Hamburg Hinz & Kunzt, in Frankfurt Soziale Welt… Die VerkäuferInnen stets ein bunt gewürfelter Haufen mit den unterschiedlichsten Lebensgeschichten, allerdings mit einem gemeinsamen Nenner, nämlich dass sie nichts haben außer ihren Körper und ein wenig Stolz.
Die Motz zum Beispiel kostet 1,50 Euro – 50 Cent sind für die Verkäufer.
Was macht Ihr? Gebt Ihr? Immer, manchmal, selten, nie? Und was sind Eure Gründe, wenn Ihr euch dafür entscheidet, nicht zu geben? - „Ich hab’s doch selber nicht dicke.“ „Mir gibt doch auch keiner was.“ „Sollen die doch arbeiten gehen wie jeder andere auch, wie ich.“ - Solche und verwandte Sätze bröckeln – stumm, wenn auch nicht immer sehr leise - aus den Gesichtern derjenigen, die die U-oder S-Bahn dazu nutzen, von A nach B zu kommen und nicht, um eine Straßenzeitung feil zu bieten, um sich Geld für die Deckung der unmittelbaren menschlichen Grundbedürfnisse für einen Tag, nämlich für Essen und Trinken und ein trockenes, warmes Plätzchen für die Nacht, zu verdienen.
Woher nur kommt so eine Missachtung – und die zugeknöpften Taschen - angesichts derer, die nichts haben? Ist es die Angst davor, womöglich selber einmal dort zu stehen, als armer Teufel in fleckigen Klamotten eine zerknautsche Zeitung hochhaltend? Ist es diese Angst, die das Portemonnaie fest umkrallt? Der (Irr)Glaube, Armut sei ansteckend? Oder fehlt es etwa an dem, was man früher mit dem so schönen und irgendwie Wärme verströmenden Wort Barmherzigkeit bezeichnet hat? Heute wird gerne der Begriff „Empathie“ benutzt. Verlieren wir zunehmend an Mitgefühl und der Bereitschaft, denjenigen, den es schlechter geht als uns, zu helfen? 
Erst vor ein paar Tagen und passend zur Weihnachtszeit erschien in der ZEIT die Reportage „Maria und Josef im Ghetto des Geldes“. Zusammen mit der Schauspielerin Viola Heeß machte sich ZEIT-Redakteur Henning Sußebach auf in den Taunus, dorthin, wo die reichsten Deutschen leben, um als obdachloses Paar die Hilfsbereitschaft derer von Ackermanns und Opels zu testen. Das Ergebnis - auf alle Fälle lesenswert- ist erschreckend, und doch auch wieder in gewisser Weise beruhigend, wir wissen’s doch eh, das irdische Paradies mag wunderschön sein, aber regiert in ihm die Eiseskälte.


„An den Hängen des Taunus bestätigt sich eine Studie des amerikanischen Psychologen Dacher Keltner. Keltner ist Professor an der University of California und hat kürzlich behauptet, vermögende Menschen seien weniger mitfühlend als ärmere. (…) Anfangs dachte Keltner, ärmere Menschen seien womöglich religiöser oder politisch eher links. Doch dann kam er zu dem Schluss, dass Arme einfach öfter die Erfahrung machten, dass man »sich gegenseitig helfen« müsse: »Es gibt immer einen, der dich irgendwohin mitnimmt oder auf dein Kind aufpasst.« Genau das befähige sie, die Nöte anderer überhaupt wahrzunehmen. (...) »Dass die Reichen etwas zurückgeben, ist psychologisch unwahrscheinlich«, sagt Keltner. »Was Reichtum und Bildung und Prestige und eine gute Position im Leben einem geben, ist die Freiheit, sich auf sich selbst zu konzentrieren.«“


Die Reichen also konzentrieren sich bestenfalls auf sich, selbst wenn sie geben. Und so liest sich das, was Sußebach und Heeß von ihrer letzten Station, einem Hotel in Kronberg, zu berichten wissen wie eine Persiflage. Das obdachlose, hilfebedürftige Paar wird des Hauses verwiesen, mit den Worten: »Das ist wirklich unpassend heute. Wir haben hier nämlich eine Wohltätigkeitsveranstaltung.«


Auf dieser Reise in die Welt der 1 % gab es zwar vereinzelt Menschen, die Hilfsbereitschaft zeigten, doch scheinen es Leute gewesen zu sein, die zwar Eintritt in die Welt der „oberen Zehntausend“ haben, aber nicht wirklich dazu gehören: der türkisch-hessische Gärtner, der Langhaarige, die Bäckereifachverkäuferin… Was also will dieser Artikel? Reichen-Bashing?
Nein, dazu sind Sußebach und Heeß immer noch zu selbstkritisch, oder sagen wir: zu empathisch, denn sie versuchen sich in die Lage der „anderen“, der Kronberger und Königsteiner, zu versetzen und fragen: „ Was hätten wir an ihrer Stelle getan? Hätten wir anders gehandelt? Das sind die Fragen, die sich jedem Kritiker und jedem Tester stellen – und auf die es keine Antwort gibt. Nur einen zweihundert Jahre alten Satz Gotthold Ephraim Lessings: »Der Rezensent braucht nicht besser machen zu können, was er tadelt.« Sein verhasstes Verdienst ist, zu beschreiben, was er sieht.“


Beamen wir uns zurück in eine beliebige Berliner, Hamburger oder Frankfurter U-Bahn, beamen wir uns in die Fußgängerzonen Bambergs, Braunschweigs oder Lünens. Wo ist hier die Empathie, die Barmherzigkeit?


Anfang des Jahres erschien in deutscher Übersetzung das Buch des bekannten Biologen und Zoologen Frans de Waal, „Das Prinzip Empathie – Was wir von der Natur für eine bessere Gesellschaft lernen können“ im Hanser Verlag. Was de Waal bei seiner jahrzehntelangen Arbeit beobachtet und empirisch belegen konnte, klingt nicht immer nach dem viel zitierten survival of the fittest und der „innere Affe“ im Menschen scheint, aus Sicht des Biologen und Verhaltensforscher, gar nicht so gierig und rücksichtslos wie oft beschworen. Irren diejenigen, die denken, eine gerechtere Gesellschaft sei bloß Utopie und alles andere als umzusetzen, weil der Mensch „nun einmal so ist“: rücksichtslos und sich selbst bereichernd?

„In den Rechts-, Wirtschafts- und Politikwissenschaften fehlt es den
Beteiligten einfach an den Werkzeugen, um unsere Gesellschaft auch
nur annähernd objektiv zu betrachten. Womit sollen sie sie vergleichen?
Nur selten, wenn überhaupt, ziehen sie den enormen Wissensbestand
zu Rate, der in der Anthropologie, Psychologie, Biologie oder
Neurowissenschaft zusammengetragen wurde. Die kurze Antwort,
die sich aus diesen Wissenschaften ableiten lässt, lautet: Wir sind
Gruppentiere – sehr kooperativ, gegen Ungerechtigkeit empfindlich,
manchmal kriegerisch, doch überwiegend friedliebend. Eine Gesellschaft,
die diese Neigungen ignoriert, kann nicht ideal sein. Gewiss,
wir sind auch anreizgesteuerte Tiere – fokussiert auf Status, Territorium
und Nahrungssicherung –, weshalb auch keine Gesellschaft,
die diese Tendenzen außer Acht lässt, ideal sein kann. Unsere Art hat
beides, eine soziale und eine selbstsüchtige Seite. Doch da letztere,
zumindest im Westen, meist im Vordergrund steht, möchte ich mich
auf erstere konzentrieren: die Rolle der Empathie und der sozialen
Verbundenheit.“ (S.15/16)



Was also bleibt unterm Strich zu sagen, wie ist es um die Barmherzigkeit in der Welt bestellt? Vielleicht dieses: Der Mensch ist zu mehr Mitgefühl und Solidarität fähig als man es ihm üblicherweise unterstellt. Binsenweisheit? Dummes Geschwätz? Konzentrieren wir uns doch einfach mal darauf. 50 Cent sind 50 Cent. Sie fallen ins Gewicht oder aber auch nicht. Wer’s verschmerzen kann, der gebe. Auch 2012. Seien wir nicht unmenschlicher als die Ratten. Diese befreien ihre Artgenossen selbstlos aus Glasröhren, eben auch dann, wenn sie daraus keinen Nutzen für sich selber ziehen. Selbst Naschereien werden liegen gelassen und anschließend brüder-und schwesterlich mit dem Geretteten geteilt.



Halt! Bleiben wir fair: Hätte das obdachlose Pärchen aus dem ZEIT-Bericht, wie die Ratte in dem Experiment, in einer Glasröhre gesteckt, ohne Chance, aus eigenen Kräften wieder herauszukommen, wahrscheinlich hätten die Kronberger und Königsteiner ihre Paläste verlassen, um ihren Artgenossen zu Hilfe zu eilen.


Auch wenn wir nach dem chinesische Kalender erst 2020 wieder das Jahr der Ratte erleben werden, bleibt Hoffnung, dass wir  nicht nur dem Affen in uns Zucker geben, sondern auch den kleinen rattus rattus hätscheln und tätscheln.


In diesem Sinne: Ein frohes Neues Jahr!


"Armut wird häufig als Beweis für Faulheit und soziale Gerechtigkeit als Schwäche diffamiert. Das Bekenntnis zu wirtschaftlicher Freiheit bringt die besten und schlimmsten Seiten der Menschen zum Vorschein. Die schlimmste ist der Mangel an Mitgefühl." (Frans de Waal)
 

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